Warum ‚Back to the Roots‘ auch sehr mühevoll sein kann
DR. MED. MICHAEL MÜLLER
Voller Zuversicht blicken wir auf den Sommer in Erwartung eines ‚saisonalen Effekts‘ in der COVID-19-Pandemie mit deutlich rückläufigen SARS-CoV-2-Neuinfektionszahlen. Wir sehnen uns nach der damit verbundenen Entlastung. Wir befinden uns auch in dem so schwer einschätzbaren Übergang zwischen Pandemie und Endemie, zwischen Krisenmodus zur Bewältigung sehr dynamischer Infektionswellen und dem wellenförmigen – da auch saisonal beeinflussten – Infektionsgeschehen einer von mehreren Atemwegserkrankungen. So überrascht auch nicht die teils kontroverse und eher verunsichernde Debatte darüber, was aktuell und insbesondere mit Blick auf erwartbar höhere Infektionszahlen im kommenden Herbst und Winter die richtigen Maßnahmen sind.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, von eher generellen Empfehlungen und Anordnungen zur Isolation Infizierter und Quarantäne enger Kontaktpersonen überzugehen auf die im Infektionsschutzgesetz angelegten eher individuellen Maßnahmen? Wie können die Diagnostik und Behandlung von Erkrankten und Verdachtsfällen sicher in die tägliche ambulante und stationäre Versorgung mit möglichst wenigen zusätzlichen Maßnahmen integriert werden? Welche Erfahrungen können wir aus der Pandemie mitnehmen zur Verbesserung der Versorgung? Welche Fehlentwicklungen sollten wir stoppen? Hier hilft der Blick auf die Zeit vor der Pandemie, auf das, was bereits hervorragend funktionierte im Sinne bestmöglicher Versorgung – gewissermaßen ‚Back to the Roots‘. Lassen Sie mich einige wenige Aspekte benennen:
Medizin wird von Ärztinnen und Ärzten verantwortet – auch in der Pandemie
Eine der Fehlentwicklungen in der SARS-CoV-2-Pandemie ist die Deprofessionalierung der Diagnostik mit Teststellen ohne jegliche ärztliche Gesamtverantwortung, fachliche Expertise und Kenntnisse in der Durchführung und Interpretation diagnostischer Tests. Das allein ist bedenklich, denn es wurden mehrere Milliarden Euro an nichtärztliche Teststrukturen vergeben, die im Gegensatz zu ärztlichen Versorgungsstrukturen in vielen Fällen nicht auf die Einhaltung der in der Testverordnung verankerten
Qualitätssicherungsmaßnahmen überprüft wurden. Gleichzeitig mehren sich die Berichte Betroffener über nicht erkannte Infektionen, die Anlass zu großer Sorge geben. Dies gilt es zu stoppen, auch mit Blick auf die nicht sinnvoll eingesetzten finanziellen Ressourcen.
Die medizinische Versorgung gehört in ärztliche Hand, auch in einer Pandemiesituation. Die Ärzteschaft, ob ambulant oder stationär, ob in der Arztpraxis, im fachärztlichen Labor oder dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, trägt hierbei gemeinsam mit den Mitarbeitenden die Hauptlast. Weder medizinfremde Akteure noch Apotheken können aufgrund der fehlenden Ausbildung und Expertise Teile der Medizin übernehmen. Das gilt für das Impfen gleichermaßen wie für die Diagnostik.
Diagnostik ist Bestandteil der Versorgung durch Ärztinnen und Ärzte
Nur Ärztinnen und Ärzte haben das spezifische Wissen und die Fähigkeiten, die für eine Diagnosefindung, womit auch die Labordiagnostik gemeint ist, richtige Indikation zu stellen. Diagnostik ist sinnvoll, wenn aus dem Ergebnis eine konkrete Handlung zum Nutzen des Patienten abgeleitet werden kann. Der Versorgungsaspekt sollte auch in der COVID-19-Pandemie wieder in den Vordergrund gestellt werden. Das spart erhebliche Ressourcen und Aufwände. Kranke und Ratsuchende sind bei Ärztinnen und Ärzten am besten aufgehoben.
Interdisziplinäre medizinische Versorgung schont die Ressourcen
Das Wissen in der Medizin entwickelt sich sehr dynamisch. Kaum eine Ärztin oder ein Arzt kann alles überblicken. So ist die Patientenversorgung insbesondere durch gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure gekennzeichnet. Die Labordiagnostik ist ein wichtiger Teilbereich hiervon. Ein mit Blick auf die bestmögliche Qualität der Medizin ausgerichtetes sinnvolles Miteinander von Sofort-Diagnostik direkt am Ort der Versorgung und zeitgerechter Diagnostik in fachärztlichen Laboratorien sichert auch den schonenden Umgang mit den ohnehin begrenzten Ressourcen.
Es erscheint dringend geboten, wieder die Balance zu finden zwischen allen Ansprüchen und Erwartungen, der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitswesens durch alle direkten und indirekten Auswirkungen der SARS-CoV-2-Infektion und der Sicherstellung einer bestmöglichen medizinischen Versorgung der Bevölkerung, die sich jederzeit an uns Ärztinnen und Ärzte wenden können sollte. Politik kann hierfür nur die Rahmenbedingungen bereitstellen und sollte auch nicht in größerem Umfang in die Detailfragen ‚hineinregieren‘.
Nehmen wir die COVID-19-Erkrankung im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Infektion weiterhin ernst und geben ihr das Gewicht und die Bedeutung, die ihr aus medizinisch-ärztlicher Sicht zuzumessen sind.