COVID-19 ist eine globale und bedrohliche Infektionserkrankung – neben vielen anderen
Dr. med. Michael Müller
COVID-19 als neue globale Infektionserkrankung und auch als eine Jahrhundertpandemie beherrscht weiterhin das gesellschaftliche Miteinander. Ende Januar 2022 sind weltweit mehr als 350 Millionen Fälle gezählt, über 5,6 Millionen Menschen sind im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben.
In Deutschland überstieg die Zahl der laborbestätigten Fälle die Zehn-Millionengrenze. Unsere Gesellschaft verzeichnet mehr als 110.000 Verstorbene. Das unsichtbare Virus hat als für das menschliche Immunsystem neuer Erreger fast alles im Griff, und auch die Medizin richtet sich weiterhin weitestgehend danach aus. Mit der ‚Omikron-Welle‘ sieht sich die Gesellschaft mit einer noch leichter übertragbaren Virusvariante konfrontiert, die auch Geimpfte infiziert und somit nahezu kein ‚Stoppschild‘ kennt. Dies versperrt den Blick auf den schnellen und bahnbrechenden Erfolg der frühen Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die sehr zuverlässig vor einem schweren Verlauf und dem Versterben an einer COVID-19-Erkrankung schützen.
Doch was kommt danach? Wie lange ist es richtig, notwendig und sinnvoll, einen substanziellen Teil der gesellschaftlichen Anstrengungen allein auf die Pandemiebewältigung auszurichten? Was bedeutet das für die medizinische Versorgung der vielen anderen akuten und chronischen Erkrankungen? Wie kommen wir zurück zu einer angemessenen Gewichtung, die eine SARS-CoV-2-Infektion entsprechend ihrer medizinischen Bedeutung einordnet und daraus auch das Handeln sowie die Empfehlungen für die von der Erkrankung Betroffenen ableitet?
Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle geschrieben: „Ärztinnen und Ärzten wird, unabhängig von ihrem Tätigkeitsgebiet in der direkten Patientenversorgung oder im Öffentlichen Gesundheitsdienst, diese neuartige Infektionserkrankung weitgehend in wichtigen Kernfragen aus der Hand genommen. Fokus und Blickwinkel verschieben sich, ja es konkurrieren ganz unterschiedliche und berechtigte Interessen miteinander, die einer gemeinschaftlichen Abwägung bedürfen. Hier kommt Einrichtungen wie dem Ethikrat und auch den ärztlichen Körperschaften und Vertretungen eine besondere Rolle zu. So ist SARS-CoV-2 als neue Infektionserkrankung auch eine neue Herausforderung für die Zusammenarbeit innerhalb der Ärzteschaft und auch weit darüber hinaus innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen. Das erfordert einen respektvollen und wertschätzenden Diskurs, in dem der Ärzteschaft auch eine besondere Rolle und Verantwortung zukommt.“
Es wirkt befremdlich, wenn überwiegend Personen aus medizinfremden Bereichen über medizinische Fragen und sich daraus ergebende Maßnahmen zur Bewältigung einer von einer Infektionserkrankung ausgelösten Pandemie diskutieren und dabei uns Ärztinnen und Ärzten die Ausübung unseres Berufs zu erklären versuchen. Dabei werden nicht selten medizinisch-ärztliche Argumente ohne weitere Begründung ‚vom Tisch gefegt‘, gelegentlich auch mit Verweis auf ‚wissenschaftliche Studien‘, deren Existenz und Richtigkeit nicht einmal überprüfbar sind. Es reicht bereits, eine eingereichte und noch nicht unabhängig überprüfte Publikation vorzulegen, um das Gewicht von Argumenten zu erhöhen. Im ‚Klein-Klein‘ und ‚Schnell-schnell‘ ergeht sich die Diskussion.
Eingesetzte Expertenräte tagen im Geheimen und publizieren Stellungnahmen mit einstimmigen Voten, was angesichts der Thematik kaum möglich erscheint. Über allem tritt die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den Hintergrund. Die Folge ist eine messbare deutlich spätere Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe bei akuten und chronischen Erkrankungen mit verzögerter Diagnosestellung von Herzinfarkt, Schlaganfall, Tumorerkrankungen und vielen anderen behandlungsbedürftigen Krankheiten.
Es scheint dringend geboten, wieder die Balance zu finden zwischen allen Ansprüchen und Erwartungen, der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitswesens durch alle direkten und indirekten Auswirkungen der SARS-CoV-2-Infektion und der Sicherstellung einer bestmöglichen medizinischen Versorgung der Bevölkerung, die sich jederzeit an uns Ärztinnen und Ärzte wenden können sollte. Politik kann hierfür nur die Rahmenbedingungen bereitstellen und sollte auch nicht in größerem Umfang in die Detailfragen ‚hineinregieren‘.
Nehmen wir die COVID-19-Erkrankung im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Infektion weiterhin ernst und geben ihr das Gewicht und die Bedeutung, die ihr aus medizinisch-ärztlicher Sicht zuzumessen ist.