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Update zur Diagnostik des Angioödems

 

Akute oder rezidivierende Angioödeme stellen einen häufigen Vorstellungsgrund in der Ersten Hilfe bzw. der ambulanten Versorgung dar. Angioödeme sind Schwellungen tiefer dermaler bzw. mukosaler Gewebe, die durch eine passagere Erhöhung der Permeabilität von Blutgefäßen entstehen.

DR. MED. ANTJE HOHMANN DA SILVA

Angioödeme können an verschiedenen Regionen des Körpers auftreten, so z. B. im Gesicht, an den Extremitäten, im Genitalbereich oder selten im Bauchraum. Die Frequenz und Dauer der Attacken ist sehr variabel. Normalerweise klingen die Schwellungen innerhalb von 1–5 Tagen spontan ab. Bei Vorkommen im Bereich des Kehlkopfes bzw. Rachens können sie zu lebensbedrohlichen Zuständen führen.

Anhand der aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften erfolgt die pathophysiologische Einteilung der Angioödeme in zwei grundlegende Formen: die Mastzellmediator-induzierten sowie die Bradykinin-vermittelten Angioödeme mit jeweils deren Unterformen. Die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Entitäten ist für das therapeutische Vorgehen unabdingbar.

 

Mastzellmediator-induzierte Angioödeme

 

Bei den sehr viel häufigeren Mastzellmediator-induzierten Angioödemen werden IgE-vermittelte, Nicht-IgE-vermittelte allergische oder pseudoallergische Formen und solche mit unklarem Mediator (idiopathische Angioödeme) unterschieden. Bei immer wiederkehrenden Angioödemen, die nicht allergisch bedingt sind, liegt häufig eine Urtikaria vor. Diese ist durch das Auftreten von Quaddeln und/oder Angioödemen charakterisiert.

Anhand der Dauer der Beschwerden wird zwischen einer akuten (Symptome ≤ 6 Wochen) und einer chronischen Urtikaria (Symptome > 6 Wochen) unterschieden, wobei letztere chronisch spontan (csU) oder chronisch induzierbar (CIndU) bspw. durch physikalische Einflüsse wie Wärme, Kälte, Licht, Druck etc. auftreten kann.

Bei der akuten Form ist keine weitreichende Diagnostik erforderlich. Anamnestisch sollten Infekte und mögliche (pseudo-) allergische Reaktionen auf Nahrungsmittel oder Medikamente (z. B. NSAID) ausgeschlossen werden. Bei der chronischen Urtikaria wird neben der ausführlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung die Bestimmung von Entzündungsparametern (BSG, CRP, gr. BB) und bei Erwachsenen der Ausschluss einer Paraproteinämie empfohlen (Serumeiweiß-Elektrophorese, Immunfixation und freie Leichtketten im Serum). Bei entsprechendem klinischem Verdacht ist die Abklärung einer Lebensmittel- oder Arzneimittelallergie, einer ursächlichen Infektion (bspw. mit H. pylori) oder einer autoimmunen Schilddrüsenerkrankung sinnvoll. Bei Patienten, die ausschließlich Quaddeln (aber keine Angioödeme) aufweisen, müssen eine Urtikaria-Vaskulitis und autoinflammatorische Erkrankungen ausgeschlossen werden (z. B. Schnitzler-Syndrom, Kryopyrin-assoziierte periodische Syndrome [CAPS] etc.).

 

Bradykinin-vermittelte Angioödeme

 

Bei Patienten, die erstmals ein Angioödem entwickeln, ist die Anamnese entscheidend. Eine positive Familienanamnese und ein Beginn der Symptome in der Kindheit/Adoleszenz, Prodromalzeichen, wiederkehrende schmerzhafte abdominelle Beschwerden, das gehäufte Auftreten von Schwellungen im Bereich der oberen Atemwege sowie ein Nichtansprechen auf Antihistaminika und Glukokortikoide spricht am ehesten für ein Bradykinin-vermitteltes Angioödem. Das vasoaktive Peptidhormon Bradykinin wird durch das Kallikrein-Kinin-System gebildet, wobei der C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) eine hemmende Funktion hat.

Das Hereditäre Angioödem (HAE) ist eine seltene Erkrankung, bei der aufgrund eines genetischen Defekts entweder zu wenig C1-INH produziert wird (HAE-I; in etwa 85 % der Fälle) oder der produzierte C1-INH nicht funktionstüchtig ist (HAE-II; zu etwa 15 %). Der C1-INH ist ein Serinprotease-Inhibitor und wird im Gen SERPING1 codiert. Über 450 verschiedene SERPING1-Mutationen, die zu einem quantitativen oder funktionellen Defekt führen (autosomal-dominanter Erbgang), sind gegenwärtig bekannt. De-novo-Mutationen machen etwa 10–20 % der Fälle aus.

Das sehr seltene HAE mit normalem C1-INH (HAE-nC1-INH; HAE-III), das sich klinisch kaum vom HAE-I/II unterscheidet, betrifft überwiegend Frauen. Bei einigen dieser Patientinnen liegen Mutationen im Faktor-XII-Gen vor. Weitere Mutationen in anderen Genen wurden als Ursache des HAE-nC1-INH beschrieben.

Patienten mit Angioödemen durch erworbenen C1-INH-Mangel (AAE = Acquired Angioedema) haben in der Regel eine normale C1-INH-Synthese, aber das Protein wird rascher katabolisiert. Sie zeigen die gleiche Symptomatik wie Patienten mit HAE-I/II, sind jedoch bei Krankheitsbeginn in der Regel älter (> 40 Jahre) und weisen beispielsweise eine lymphoproliferative Erkrankung oder Autoimmunerkrankung als Grunderkrankungen auf (AAE-I).

Beim AAE-II finden sich Autoantikörper, die gegen C1-INH gerichtet sind und diesen degradieren. Arzneimittel, die den Abbau von Bradykinin beeinträchtigen, können ebenfalls Angioödeme auslösen (v. a. ACE-Hemmer [ACEI-AAE] oder seltener z. B. Angiotensin-1-Rezeptor-Antagonisten [Sartane]).

In der Notfallsituation kann die Diagnose ausschließlich basierend auf einer exakten Anamnese und der klinischen Symptomatik gestellt werden. Laborparameter spielen erst im weiteren Verlauf eine Rolle. Bei Verdacht auf ein Bradykinin-vermitteltes Angioödem ist zur labordiagnostischen Abklärung die gleichzeitige Bestimmung der C1-Esterase-Inhibitor-Aktivität und -konzentration im Citratplasma sowie von C4-Komplement im Serum erforderlich. Bei Patienten mit HAE-I sind diese Werte typischerweise in der Attacke und im symptomfreien Intervall erniedrigt. Beim HAE-II sind die C1-INH-Aktivität und C4 permanent erniedrigt, die C1-INH-Konzentration kann normal oder sogar erhöht sein.

Besteht der Verdacht auf ein erworbenes Angioödem (AAE-I/II), sollte zusätzlich C1q-Komplement i. S. bestimmt werden. Der Nachweis von C1-Esterase-Inhibitor-AK i. S. untermauert die Diagnose eines AAE-II. Eine Verminderung des CH50-Spiegels (Untersuchung aus tiefgefrorenem Serum erforderlich) wird eher beim AAE erwartet.

Bei eindeutigen klinischen und laborchemischen Befunden sind molekulargenetische Untersuchungen in der Regel nicht erforderlich. Die Indikationsstellung zur Mutationsanalyse bleibt entsprechenden Behandlungszentren vorbehalten. Patienten mit hereditärem oder erworbenem Angioödem sollten zur Langzeitbetreuung an eine fachspezifische Sprechstunde angebunden werden.

 

2106 Tab 04

Tabelle 1: Charakteristische Laborkonstellationen beim HAE und AAE

 


Literatur

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  2. Buttgereit T, Magerl M. Durch Mastzellmediator oder Bradykinin vermittelt? Cool bleiben beim akuten Angioödem. Pneumo News 2020; 12(4):25–31
  3. Bauer A, Dickel H, Jakob T et al. Expertenkonsensus zu praxisrelevanten Aspekten bei der Behandlung der chronischen Urtikaria. Allergo J Int 2021, 30:64–75
  4. Bork K, Aygören-Pürsün E, Bas M et al. S1-Leitlinie „Hereditäres Angioödem durch C1-Inhibitor-Mangel“ (AWMF-Register-Nr. 061-02). Allerg J Int 2019; 28:16–29
  5. Buttgereit T, Maurer M. Klassifikation und Pathophysiologie von Angioödemen. Hautarzt 2019;70:84–91
  6. Brehler R. Chronisch rezidivierendes Angioödem. Rationelle Diagnostik und Therapie in der Praxis. Pneumo News 2020; 12(4):34–37